© Kairos
Bereits zum 14. Mal verneigt sich das Central im Bürgerbräu vor der italienischen Filmkunst, indem es eine Reihe von herausragenden Werken über die Leinwand flimmern lässt. Das Programm der Italienischen Filmtage bietet eine breite Palette an Themen und Genres, die die Entwicklung der italienischen und europäischen Gesellschaft widerspiegeln. Neben aktuellen Produktionen werden auch zwei Klassiker der Filmgeschichte gefeiert.
Die Geschichte des italienischen Films begann bereits kurze Zeit, nachdem die Brüder Lumière das Medium entdeckt hatten. Seitdem hat das italienische Kino die Filmbewegungen weltweit beeinflusst. Insbesondere der Neorealismus prägte die gesamteuropäische Filmproduktion, diente als Impulsgeber der französischen Nouvelle Vague und beeinflusste Regisseure wie Roberto Rossellini, Luchino Visconti und Federico Fellini. Von den späten Fünfziger- bis tief hinein in die Siebzigerjahre war die Commedia all’italiana weltweit ein Synonym für die virtuoseste und beißendste Form sozialkritischer Unterhaltung.
In den frühen Sechzigerjahren begründete Sergio Leone das Genre des Italowestern, ein Jahrzehnt später wurde der Poliziottesco, der italienische Polizeifilm, erfolgreich kommerzialisiert. Beide Genres dienten amerikanischen Regisseuren wie Wes Craven oder Quentin Tarantino als Anregung. Eine zweite Generation von Autorenfilmern führte die Tradition des italienischen Kunstkinos bis Ende der Neunzigerjahre erfolgreich fort und auch im italienischen Gegenwartskino treten Regisseure in Erscheinung, die sich mit ihren erfolgreichen Vorläufern messen können.
Zwei Klassiker der Filmgeschichte
Das italienische Kino hat sich stets den aktuellen sozialen Problemen des Lan- des angenommen – dafür stehen auch die beiden Klassiker, die bei den diesjährigen Italienischen Filmtagen gezeigt werden: Michelangelo Antonionis „Il deserto rosso“ („Die rote Wüste“) aus dem Jahr 1964 ist ein postindustrialistisches Meisterwerk, das mit bewusst irrealer Farbdramaturgie die radikale Sinnkrise einer Frau beschreibt. Giuliana, die Ehefrau eines Ingenieurs und Fabrikbesitzers in Ravenna, gerät nach einem Autounfall in Angstzustände: Mann und Kind werden ihr fremd und die technisierte Umwelt vermittelt ihr immer stärker das Gefühl einer zunehmenden Bedrohung. Ausgewählt wurde der Film auch als Hommage an die in diesem Jahr verstorbene Schauspielerin Monica Vitti.
„Mamma Roma“, der zweite Klassiker im Programm, ist in seiner sozialen Analyse ganz dem Neorealismus verpflichtet. Pier Paolo Pasolinis zweite Regiearbeit von 1962 mit einer Anna Magnani auf dem Höhepunkt ihres Könnens, spielt, wie die meisten seiner Werke, im Milieu des „sottoproletariato“, der Unterschicht italienischer Vorstädte. Pasolini zeichnet darin das Porträt einer Prostituierten, die versucht, ihrem Sohn zuliebe ein bürgerliches Leben aufzubauen. Auch dieser Film darf als Hommage verstanden werden: PPP wäre in diesem Jahr 100 Jahre alt geworden.
Realismus als Programmschwerpunkt
Der realistischen Linie folgen auch die übrigen Titel der diesjährigen Auswahl. Jonas Carpignanos preisgekrönter Film „A Chiara“ ist einerseits Coming-of- Age-Drama, andererseits besitzt er – wie die stilbildenden Filme des Neorealismus – dokumentarischen Charakter: Die fünfzehnjährige Chiara, die mit ihrer Familie ein behütetes, unauffälliges Leben im Süden Italiens führt, stellt eines Tages fest, dass ihr Vater in kriminelle Machenschaften verwickelt ist. Bei Mutter und Schwester jedoch stößt sie auf eine Mauer des Schweigens. Carpignano lässt dabei tief ins Herz der ’Ndrangheta, der kalabrischen Mafia und ihren Familienbanden, blicken, was nicht zuletzt seinem Einsatz von Laiendarstellern zu verdanken ist.
Auch „Calcinculo“ von Regisseurin Chiara Bellosi wird von einer jungen, weiblichen Darstellerin getragen. Für die fünfzehnjährige, übergewichtige Benedetta ist ihre Umgebung, eine öde Provinz in Süditalien, Sinnbild ihres Inneren: Sie sehnt sich nach Veränderung und Aufmerksamkeit. Als vor der Haustür der Familie ein Jahrmarkt seine Zelte aufschlägt, lernt sie die ältere Schaustellerin Amanda kennen, die ein unabhängiges Leben führt und sich Gendernormen widersetzt. Zwischen den beiden entsteht eine vorsichtige Freundschaft, die Benedetta den Weg zur Selbstentdeckung ebnet.
Sozialkritik im Film
Um die Komplexität, die sich aus der Berührung verschiedener Kulturen ergibt, geht es in Hleb Papous Film „Il legionario“. Er folgt Daniel, Sohn afrikanischer Einwanderer, der bei der römischen Bereitschaftspolizei arbeitet. Als er sich einem Räumungseinsatz in jenem besetzten Gebäude anschließen muss, in dem er aufgewachsen ist und wo noch immer seine Mutter und sein Bruder leben, gerät er zwischen die Fronten. Hin- und hergerissen zwischen den Zugehörigkeiten versucht er, sowohl der einen als auch der anderen Seite gerecht zu werden.
Filmemacher Hleb Papou ist selbst Migrant aus Belarus und gewann mit „Il legionario“ beim Filmfestival von Locarno den Preis als bester Nachwuchsregisseur. Gesellschaftlich relevanten Themen nimmt sich auch Regisseur Andrea Segre an. In seinem Drama „Welcome Venice“ stehen zwei venezianische Brüder im Mittelpunkt, deren Leben vor dem Hintergrund des unaufhaltsamen Wandels durch den globalen Tourismus in Venedig aus den Fugen gerät.
Während der eine der Tradition der Familie folgen und Fischer bleiben möchte, hofft der andere, vom Tourismusboom zu profitieren, indem er sein Elternhaus zu einer Ferienunterkunft für zahlungskräftige Fremde umbaut. Der Konflikt zwischen den Brüdern greift schließlich auf die ganze Familie über. Mit „Ariaferma“ steht ein weiteres Werk auf dem Programm, das auf diversen Festivals mit großer Zustimmung aufgenommen wurde.
Sein dritter Spielfilm bescherte Leonardo Di Costanzo, der seit 1998 mehrere Dokumentarfilme drehte, zwei „David di Donatello“, den bedeutendsten italienischen Filmpreis. Schauplatz ist ein altes Gefängnis in den Bergen, das kurz vor der Schließung steht. Die wenigen übrig gebliebenen Häftlinge und Beamten warten auf ihre Verlegung. Die ungewisse Situation führt zu zunehmenden Spannungen, die in einem Macht- kampf um die Kontrolle über das Gefängnis gipfeln.
Neapolitanisches Drama in der Preview
Weil auch die klassische Komödie bei den Italienischen Filmtagen nicht fehlen darf, zeigt das Central die erfolgreiche Fortsetzung von „Come un gatto in tangenziale“ („Wie eine Katze auf der Autobahn“) von Riccardo Milani, der sich für seine sozialkritisch-realistischen Darstellungen von Missständen in der italienischen Gesellschaft gerne den Mitteln der Commedia all’italiana bedient. Im ersten Teil traf Monica, die in einer heruntergekommenen Wohngegend in Rom lebt, auf Giovanni, einen Intellektuellen, der für die EU arbeitet.
Im zweiten Teil gerät Monica in Konflikt mit dem Gesetz. Giovanni jedoch kann erwirken, dass ihre Strafe in gemeinnützige Arbeit in einer anderen Gemeinde umgewandelt wird. Unglücklicherweise liegt Monicas neues Wirkungsfeld genau neben dem schicken Kulturzentrum, das Giovanni in Kürze eröffnen will. In Italien avancierte „Come un gatto in tangenziale“ mit Paola Cortellesi und Antonio Albanese zum Kassenschlager.
Mit „Nostalgia“ legte Mario Martone 2022 seinen 17. Spielfilm vor, für den der Regisseur seine zweite Einladung in den Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes erhielt. Nach 40 Jahren, die er im Mittleren Osten und Afrika verbracht hat, kehrt Felice in seine Heimatstadt Neapel zurück, um ein letztes Mal seine todkranke Mutter zu sehen. Er begibt sich auf eine Reise zurück in Kindheit und Jugend, aber auch in ein Viertel, aus dem die Gefahr nie ganz verschwand.
So trifft er auf einen Freund aus der Vergangenheit, der in die Kriminalität abgedriftet ist, lernt aber auch den engagierten Gemeindepfarrer Don Luigi Rega kennen, der seit Jahren versucht, gegen die Vorherrschaft der Camorra anzukämpfen. Felice stellt bald fest, dass sich die Gesichter zwar verändert haben, die Hierarchien der Unterwelt jedoch die gleichen geblieben sind.
Programmübersicht
Do., 13.10.:
20 Uhr: Welcome Venice
Fr., 14.10.:
16 Uhr: Calpinculo
18 Uhr: À Chiara
20.30 Uhr: Nostalgia (Preview)
22.15 Uhr: Come un gatto in tangenziale 2
Sa., 15.10.:
16 Uhr: il paradiso
17.45 Uhr: Ariaferma
20 Uhr: Come un gatto in tangenziale 2 22.15 Uhr: Il legionario
So., 16.10.:
11 Uhr: Mamma Roma
14 Uhr: Il paradiso
15.45 Uhr: Welcome Venice 18 Uhr: Calcinculo
20 Uhr: À Chiara
Mo., 17.10.:
18 Uhr: Il desserto rosso
20.15 Uhr: Come un gatto in tangenziale 2
Di., 18.10.:
18 Uhr: Calcinculo 20 Uhr: Il legionario
Mi., 19.10.:
18 Uhr: Welcome Venice 20.15 Uhr: Ariaferma