Profi-Spaziergänger
Alle spazieren, permanent, ohne Ausnahme. Was einst allenthalben als langweilig, gar uncool galt und höchstens von Paaren in beigen Steppmänteln jenseits der 60 regelmäßig praktiziert wurde, ist nun zur Freizeitbeschäftigung Nummer Eins geworden. Wenn nichts mehr geht, geht eben der Mensch – auf Straßen, Wanderwegen, durch Wälder, bergauf und bergab, bei Regen und bei Sonnenschein. Wann die Durchlatschung der Welt ihren Anfang nahm, liegt auf der Hand: Der Profi-Spaziergänger ist die Ausgeburt der Pandemie. Corona zwang die Menschen in die eigenen vier Wände und tut es noch, verständlich ist da die Sehnsucht nach Natur, nach frischer Luft und ein bisschen Bewegung. Doch der Profi-Spaziergänger ist kein normaler Spaziergänger.
Der Profi-Spaziergänger hat das perfektioniert, was uns doch immer so selbstverständlich erschien: einen Fuß vor den anderen zu setzen. Ziemlich zeitgleich mit dem Ausbruch des Virus stürmte er Outdoor-Läden, um die passende Ausrüstung für Gewaltmärsche durch die Wildnis zu finden. Zu erkennen ist der Profi-Spaziergänger folglich an neonfarbener Multifunktionskleidung, die in etwa dem Wert eines Kleinwagens entspricht. Ausgeschilderte Wanderwege sind ihm mittlerweile zuwider, er liebt die Herausforderung, Naturschutzgebiete zum Beispiel. Seinen Weg markiert er gerne mit den Verpackungen diverser Powerriegel – so eine Tour de Force will vorbereitet sein.
Die abenteuerlichen Reisen, die er erlebt, sind sein ganzer Stolz, das tut er gerne kund. Nieder mit den dahinsiechenden Faulenzern, die ihre Couch höchstens fünf Mal pro Woche für eine Runde durch den Wald verlassen. Belehren kann er gut. Ein wenig ist der Profi-Spaziergänger im Spessart das, was einmal der Backpacker in Turkmenistan war … Das schlimmste am Profi-Spaziergänger ist allerdings: er ist ein Rudeltier. Und dem spazierenden Rudel kann der spazierende Normalo kaum ausweichen. Dabei will der doch nur eins: ein kleines bisschen Ruhe. Doch ein Trend wäre kein Trend, wenn er nicht irgendwann zu Ende gehen würde. Vielleicht verschwindet mit der Pandemie auch der Profi-Spaziergänger. Die Hoffnung stirbt zuletzt.