Im September fand in Würzburg zum 16. Mal das Stramu statt. Es brachte über 50 Künstler*innen und Künstlergruppen nach Würzburg, die die Straßen der Stadt zur Bühne machten. In erster Linie eben für Straßenmusik, die man in diesem Zuge geballt erleben konnte. Als eigenständige Form der Kleinkunst hat sich Straßenmusik erst vor wenigen Jahrzehnten etabliert. Man muss allerdings sagen: Wieder. Es gibt sie nämlich schon, seit es Straßen gibt. Bereits in der vorhomerischen Zeit kannte man Wandersänger, die an den altertümlichen Pendants städtischer Plätze und Gassen ihr Liedgut präsentierten. Indem sie sich obenauf als Geschichtenerzähler verdingten und Nachrichten verbreiteten, genossen sie im Gegensatz zu anderen nicht sesshaften Menschen einen relativ hohen sozialen Status. Einen eigenen Berufsstand hatten Straßenmusiker übrigens schon in der frühgriechischen Antike inne. Sie wurden da Aöden genannt, „singende Dichter“. Das Mittelalter kannte schließlich Barden, Skalden und Trobadoure, je nach Region.
Heute sind Straßenmusiker*innen oft junge Musikstudierende, die ihre öffentlichen Auftritte nutzen, um ihre Fertigkeiten zu verbessern und gleichzeitig etwas Geld zu verdienen. Mitunter sind sie auch politisch motiviert, was in den Siebzigern und Achtzigern noch verstärkt Konjunktur hatte. Liedermacher*innen traten da auf der Straße auf, um sprichwörtlich jeden zu erreichen anstatt lediglich jene, die ohnehin ihre Konzerte besuchen. Auch Rapper nutzen gerne die Straße, um sich und ihre Songs bekannt zu machen. Bezeichnenderweise jedoch nicht gerade die, denen es inhaltlich um die Straße geht.
Mitunter reifen Straßenmusiker*innen zu populären Künstlerpersönlichkeiten, die die Gassen und Marktplätze mit Hallen und Stadien tauschen können. Prominente Beispiele gibt´s dafür viele. International renommierte Musiker wie Rod Stewart, Paul Simon, Aura Dione, Yann Tiersen, Zaz oder Hank Williams spielten sich einst von der Straße nach oben.
Einer der bekanntesten deutschen Straßenmusiker ist wahrscheinlich Klaus der Geier. Der als Klaus Christian von Wrochem geborene Liedermacher engagiert sich im linksalternativen Spektrum der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen, die ab Ende der 1960er Jahre in Westeuropa und Nordamerika entstanden. Seit den Siebzigern fiedelt der studierte Violinist z.B. gegen die Pershing II-Silos auf der Mutlanger Heide, gegen Castortransporte oder den NATO-Doppelbeschluss an. Inzwischen wirkt er längst auch im kammermusikalischen Bereich oder im Rahmen der Musikpädagogik. Die Straße als unmittelbaren Wirkungsort hat er aber nie verlassen. Auf dem Stramu sah man ihn zuletzt in diesem Jahr.
Ein besonders bemerkenswertes Kuriosum innerhalb der Straßenmusikszene war der 1916 als Louis Thomas Hardin in Kansas geborene Moondog. Im Alter von 16 Jahren verlor er durch einen Unfall sein Augenlicht, was die Initialzündung einer beispiellosen Karriere markierte. Auf der Blindenschule geriet er an Klassische Musik, woraufhin er eine musikalische Ausbildung absolvierte, in deren Zuge er sich autodidaktisch weiterbildete. Sein Pseudonym legte er sich 1947 zu. Er spielte da bereits seit vier Jahren in den Straßen New York Citys, wo er auch lebte und z.B. in Hauseingängen schlief – und alsbald zu einer lokalen Berühmtheit wurde.
Ende der Vierziger konnte Moondog zwar erste LPs aufnehmen. Seinem Straßenmusikerdasein blieb er allerdings bis in die Siebziger treu. Begeistert von der Edda hüllte er sich in eine frei interpretierte Wikingerkluft und stellte in Manhattan an der Ecke 6th Avenue/54th Street sein Können unter Beweis. Manchmal fachsimpelte er mit Leonard Bernstein oder jammte mit Charlie Parker oder Charles Mingus. Auch Artur Rodzinski, der damals Dirigent der New Yorker Philharmoniker war, erkannte das beispiellose Talent des eigenwilligen Straßenkünstlers und lud in regelmäßig zu den Orchesterproben ein. Als Moondog 1954 in einen Rechtsstreit verwickelt war, fand er mit Igor Strawinski einen prominenten Fürsprecher, der den Richter ermahnte, dass er es nicht mit einem Stadtstreicher unter vielen, sondern in erster Linie mit einem ernstzunehmenden Komponisten zu tun habe. Das Hilton-Hotel schaltete damals Anzeigen in der New York Times, wo es als Adresse „gegenüber von Moondog“ angab.
Moondog komponierte alles, was sich irgendwo zwischen Klassik und Jazz verorten ließ. Er schuf Werke für 40-köpfige Orchester und Duette für Bambusflöte und Schiffsnebelhorn, entwickelte eine eigene Kompositionstheorie, verquickte den europäischen Kontrapunkt mit den musikalischen Traditionen Indiens und Indonesiens, wies Bach Kompositionsfehler nach, wurde von Philip Glass als Vorbild verehrt und von Jani Joplin gecovert. 1974 lud ihn der hessische Rundfunk zu Konzerten nach Deutschland ein, wo er kurzerhand blieb. Während man in New York seinen vermeintlichen Tod betrauerte, lebte Moondog in den Straßen von Hamburg, Hannover – und Recklinghausen.
Dort, an seinem Stammplatz vor einer Apotheke, erweckte er das Mitleid von Ilona Goebel, einer jungen Studentin. Sie traute sich erst nicht, ihn anzusprechen. Als sie allerdings auf eine LP von ihm mit Stücken für ein 45-köpfiges Orchester aufmerksam wurde, fasste sie sich ein Herz und lud ihn über die Weihnachtstage ins elterliche Haus ein. Aus Tagen wurden Jahre: Goebel gab ihr Studium auf, richtete dem blinden Virtuosen ein Studio ein, gründete ein Label und wurde seine Managerin. Sie übertrug seine in Blindenschrift verfassten Kompositionen in die normale Notenschrift: Über 50 Symphonien und zahllose experimentelle Stücke.
In der Folge wurden seine Platten neu aufgelegt. Moondog wurde u.a. zu den Salzburger Festspielen, zur Documenta und zum New Music America Festival geladen. Seine Musik erklang im American Ballet Theatre, im MET und in der Royal Albert Hall. Und Moondog komponierte unermüdlich weiter. Bis er 1999 in Münster verstarb. Sein letzter Wille sicherte seiner Förderin den Nachlass seines Gesamtwerks. Seit sie 2011 ebenfalls verstarb – beide sind im gleichen Grab beigesetzt – verwaltet ein Berliner Anwalt die Rechte von Moondogs Opus.
Ob eine vergleichbare Karriere wohl auch im Würzburg der Gegenwart möglich wäre? Immerhin lässt die Stadt seit diesem Jahr mehr Straßenmusik zu. Wer möchte, kann sich in der Fachabteilung Straßenverkehrsangelegenheiten in der Domstraße 1 die erforderliche Ausnahmegenehmigung einholen, von denen täglich maximal fünf für jeweils einen bis maximal drei Tage vergeben werden. Pro Tag sind dafür 5 Euro fällig. Der Einsatz besonders störender Musikinstrumente ist jedoch nicht gestattet.
Musiker, die sich nicht sicher sind, ob ihre Instrumente besonders störend sind – Moondog z.B. spielte oft auf der Trimba, einem von ihm selbst entworfenen Percussion-Instrument –, der kann auf die Expertise des Kommunalen Ordnungsdiensts hoffen. Denn „aufgrund zahlreicher Beschwerden der Anwohner und Geschäftsleute nimmt speziell in den Sommermonaten die Lärmbelästigung durch Musikdarbietungen im Innenstadtbereich stark zu, so dass mehrmals täglich Kontrollen durch den Kommunalen Ordnungsdienst erforderlich werden. So wird auch verhindert, dass die Beschallung im Stadtgebiet nicht überhand nimmt und der Geräuschpegel für Einheimische und Touristen passt!“. So schildert´s die Stadt Würzburg auf ihrer Webseite. Mit Ausrufezeichen.