© Ulises Ruiz Diaz
Tanzwut
Foto von Ulises Ruiz Diaz aus dem Jahr 2017: Die Januar-Ausgabe der Greatest Hits Party in der Posthalle. Der Fotobeweis bestätigt, dass Diaz Augenzeuge dieser Ereignisse war. Es dürfte sich um ein aktuelles Auftreten von Tanzwut handeln.
Wer sich der ewigen Wiederkehr des Gleichen vergewissern möchte, braucht nicht zwingend Nietzsches kritische Gesamtausgabe zu konsultieren. Bereits die Mode legt über sie Zeugnis ab, jeden Frühjahr, jeden Herbst – in Kopenhagen, Paris, Berlin, irgendwann auch Würzburg. Dass die Wiederkehr tatsächlich alles einschließt, von Miniplis, Lederjacken mit Fransen an den Ärmeln und neonfarbenen Knitterplastik-Jogginghosen bis hin zu Despoten in Präsidialposten, belegen auch die Pressetexte, die man als Stadtschreiberling ständig zugesandt bekommt. Geht´s da um Partys, geht´s aktuell oft um die Tanzwütigen. Dabei ist das soooo 1518.
Richtig gelesen: Nicht nur die 80er, 90er oder 2000er Partys, die aktuell die Großraumdiskos und Mehrzweckhallen füllen, sind alte Hüte, sondern auch die Menschen, die sie besuchen. Weil die Tanzwütigen, von denen heute die Rede ist, bereits im Mittelalter Konjunktur hatten. Sie veranstalteten ihre ausufernden Raves schon anno 1518, Mitte Juni, in Straßburg. Eine gewisse Madame Troffea tanzte da vollkommen enthemmt durch die sommerlichen Straßen, einem nicht vernehmbaren Rhythmus folgend. Ihre Euphorie wirkte ansteckend: Ihren Dance Moves folgten bald 34 andere Party People. Sie veranstalteten ein richtiges Festival, tanzten locker eine Woche durch. Im Ernst.
Die vielzitierte Festivalhymne „Drei Tage Wach“ mutet da vergleichsweise lahm, harmlos und brav an. Früher war der Durchschnittsraver deutlich krasser drauf. Denn Troffea und Co. scharten immer mehr Mittänzer um sich. Ende August, sechs Wochen später, tanzten sie immer noch grob ab, mittlerweile als regelrechte Street Parade nach Zürcher Vorbild, an der bis dahin rund 400 Personen teilnahmen. Der Obrigkeit war das schnell ein Dorn im Auge – wie immer, wenn irgendwo allzu enthemmt die Sau rausgelassen wird, ohne dass ein Brauereikonzern mitverdient. Ihre Methode, der Feiermeute beizukommen, war allerdings wenig zweckmäßig: Die Stadtverwaltung ließ allen Ernstes eine Bühne errichten und Kapellen aufspielen – wohl, um der zügellosen Party wenigstens so etwas wie eine geordnete Form zu geben. Gebracht hat´s nix: Statt Paartanz mit gebührendem Abstand zwischen Hand und Hüfte verzeichnete man Übermüdung und körperliche Versehrtheit als Folgen. Viele starben gar an Erschöpfung.
Nachdem die Obrigkeitshörigkeit damals deutlich höher ging als heute, veranlasste man, die Party People per Pilgermarsch gen St. Veit zu lotsen. Der Heilige Vitus, dem dort ein Schrein gewidmet war, sollte es richten. Jedem Tänzer wurden dort ein paar rote Schuhe überreicht, die mit Kreuzen versehen und frisch weihwasserbesprenkelt waren. Das war lange vor den vielbesungenen Blue Suede Shoes – und hat tatsächlich geholfen. Zumindest behauptet das ein gewisser Daniel Specklin, der sich in der Straßburger Chronik aus dem 16. Jahrhundert über die „Tanzwut von 1518“ auslässt. Übrigens sollen an dem Spektakel vorwiegend Frauen teilgenommen haben. Wobei diese historische Randnotiz durchaus mit Vorsicht zu genießen ist: Damals wie heute fällt es einfach auf, wenn Frauen die ihnen aufoktroyierte Hausarbeit vernachlässigen, während sich keiner groß wundert, wenn Männer ein verlängertes Wochenende lang betrunken durch die Gassen torkeln.
Nun geben uns diese historischen Aufzeichnungen zwar Anlass, 500 Jahre Tanzwut zu zelebrieren. Genau genommen feierte sie aber schon damals ein Revival – ein weiteres, wohlgemerkt. 1374 ging in Aachen und Köln ein Rave ab, der sich innerhalb einiger Wochen vom Oberrheingebiet bis nach Holland, Belgien und Nordfrankreich ausbreitete. Weiterhin sollen sich auch Tanzwütige in den Städten Erfurt und Augsburg herumgetrieben haben. Und Limburg, wo es in der Stadtchronik heißt, dass sich im Sommer 1374 eine sonderbare Sache ereignete. Die nämlich, dass sich Leute plötzlich wie in Rage zum Tanz anhoben. 1463, als die Tanzwut das Eifelgebiet zum Festivalgelände machte, wunderte man sich schon weniger. Warum? Weil man meinte, begriffen zu haben, was da vor sich geht, wenn sich die Menschen mal eben mir nix, dir nix bis in den Tod tanzen: Der Heilige Vitus soll Schuld sein, der Schutzpatron der Tänzer. Er habe einen Fluch ausgesprochen. Das Phänomen Tanzwut ging ihm zu Ehren als Veitstanz in die Geschichte ein, weswegen die Straßburger Pilgerreise nach St. Veit anno 1518 durchaus als logische Konsequenz erschien.
Weniger bibeltreue Menschen gingen allerdings schon im Mittelalter von anderen Ursachen aus. Einige führten die Veitstänze auf heißes Blut zurück, das den Leuten zu Kopf steigt, ihre Gehirne erhitzt und schließlich zwanghafte Tanzanfälle auslöst. Den Begriff Tanzwut hat übrigens Paracelsus geprägt. Er stufte das Phänomen zwar als natürliche Krankheit ein, ging allerdings davon aus, dass es aus der Einbildung heraus entstehe. Heute will so mancher Mediziner Fälle von Epilepsie, Enzephalitis oder der erblichen Nervenkrankheit Chorea Huntington in der Tanzwut erkennen. Aber Genaues weiß man nicht. Die tatsächliche Ursache bleibt weiterhin im Dunkeln.
Im 17. Jahrhundert schien die Tanzwut schließlich Geschichte zu sein. Thematisch wird sie erst wieder im Zusammenhang mit der Beatlemania interessant, bevor sie in und mit der Techno-Bewegung kulminiert. Der Blick auf letztere lässt eine andere vermutete Ursache der Tanzwut plausibel erscheinen, nämlich jene, dass die Tanzwut drogeninduziert gewesen sei. Was den gut aufgestellten Ravern von heute ihr Amphetamin, Metamphetamin, MDMA oder Masterblaster ist, war den mittelalterlichen Party People ihr Bilsenkraut. Das oder ein anderes halluzinogenes Nachtschattengewächs könnte demnach der Auslöser für die karnevalinrioesken Tanzmeuten gewesen sein – und noch wahrscheinlicher das Mutterkorn. Das ist ein Pilz, der ordentlich knallt. Zumal, wenn er ganze Getreidefelder vergiftet, was die epidemieähnliche Tanzwut, der die Menschen ganzer Regionen anheimfielen, vielleicht am besten erklärt: Vom Mutterkorn befallene Roggen- oder Weizenernten führen beim Verzehr zu Halluzinationen und Krämpfen.
Der Veitstanz, ein Krampf, ausgelöst durch eine Überdosis Mutterkorn? Wenn dem so war, dann waren die Tanzwütigen von damals so etwas wie Proto-Raver und unfreiwillige Hippies. Immerhin ist LSD ein Derivat des Mutterkorn-Alkaloids Lysergsäure. Groovy.